Was Carmen denkt:
Ich bin in einem Spiegelkabinett eingesperrt. Egal, wohin ich sehe, ich sehe mich – mein Gesicht, die Dinge, die ich nicht an mir mag – meine „Makel“. Doch dem nicht genug – Alle Spiegel sind gleichzeitig Kameras, die mich aus jeder erdenklichen Perspektive filmen, die meine Schwachstellen in Nahaufnahme für immer festhalten. Ich renne, winde mich, will mir die Hände vors Gesicht halten, doch es geht nicht – meine Arme sind an meinen Rücken gebunden. Ich kann mich nicht verstecken. Jeder kann es nun ganz genau sehen: Mein Gesicht ist schief. Und das ist nicht der einzige Makel, den man in meinem Gesicht erkennen kann. Mein Herz tut weh, mir wird heiß und kalt, ich schwitze, und alles in mir schreit. Ich muss hier raus, raus aus diesem Kabinett.
Ich schrecke hoch, greife um mich, bin unfassbar erleichtert, als ich feststelle, dass ich mich in meinem Bett befinde. „Das war nur ein Traum“ sage ich mir selbst und atme tief durch. „Alles nur ein Traum“ trichtere ich mir wiederholt ein. „Nun ja, nicht alles“ denke ich dann. Mein Gesicht ist immer noch schief, und auch nach all’ den Jahren bin ich immer noch regelmäßig in einem Kabinett eingesperrt – nur, dass es kein Spiegel-, sondern mein eigenes Gedankenkabinett ist. Nur wenige Menschen bekommen Einblick in dieses, auch für mich so komplexe, Gehäuse. Manche Gedanken sind Worte, die man mir einmal gesagt hat, und die seitdem Karussell in meinem Kopf fahren. Andere sind Annahmen darüber, was Leute alles über mich und meine, selbst ernannten, „Makel“ denken könnten. Ich werde besser darin, über meine Geschichte zu sprechen, aber gut bin ich darin noch immer nicht. Umso mutiger, couragierter und gutherziger finde ich es, wenn sich dies jemand traut.
Ich glaube nicht, dass das eigene Leben dadurch so viel leichter wird, wenn man die eigenen Wunden öffentlich macht, aber ich glaube, dass man Menschen, die mit Ähnlichem zu kämpfen haben, ganz schön viel Mut damit machen kann. So wie das Joe Traxler bei mir mit seinem Liedtext zu „Asymmetrical life“ geschafft hat. Ich weiß bereits aus dem Netz, welche Geschichte hinter dem, so starken und trotzdem so fragilen Text steht – eine plötzlich aufgetretene Lähmung einer Gesichtshälfte – und kann mich noch genau an den Moment erinnern, als ich „Asymmetrical life“zum ersten Mal gehört habe. Ich war sprachlos vor Bewunderung für diesen jungen Mann und unfassbar berührt, denn seine, so poetisch verpackten, Gedanken kannte ich nun einmal nur zu gut. „Dies könnte mein finaler Abschied von einem symmetrischen Lächeln sein“ (im Original: „This could be the final goodbye to the blink of my eye and my symmetrical smile“) sprach da tatsächlich jemand aus, was ich bisher nie gewagt hatte, laut auszusprechen. Irgendwie löste sich damit plötzlich ein ganz tiefer Knoten in mir. Und dann kam mir folgender Gedanke: Vielleicht ging es für mich persönlich erst einmal nicht darum, zu lernen, mich selbst schön zu finden, sondern darum, mich erst einmal an mein Spiegel- und Fotogesicht von allen Seiten zu gewöhnen, um mich anschließend irgendwann so schön finden zu können, wie ich bin. So, wie ich Joe schön finde, auch mit oder vielleicht sogar auch wegen der Asymmetrie seines Seins. „Oh mirror“– Ich glaube das probieren wir jetzt einmal. Danke, lieber Joe.
Was Joe denkt: (aus der Verschriftlichung unseres Interviews entnommen)
Vielen Dank für den Text, liebe Carmen – hat mich sehr berührt, den zu lesen. Wenn ich so zurückdenke, dann erinnere ich mich an einen extrem langsamen Prozess vor dem eigentlichen Schreiben des Textes. Die ersten paar Wochen mit Gesichtslähmung waren auch einfach zu hart, um ins richtige Schreib-Mindset zu kommen. Alles war schmerzhaft, ich konnte weder singen, noch sprechen, und mein Ohr war wahnsinnig geräuschempfindlich, sodass jede normale Konversation schwierig war. Die Gesichtslähmung dieser Art ist leider sehr unerforscht – und jeder sagt etwas anderes dazu – deshalb habe ich in der Anfangszeit vor allem recherchiert. Es hat lange gebraucht, bis ich dann darüber geschrieben habe, bis zur Veröffentlichung des Songs hat es fast ein Jahr gedauert. So viel Zeit habe ich mir noch nie für ein Lied genommen. Ein Thema wie dieses kommt einem aber auch nicht jeden Tag unter die Finger, und es war mir einfach extrem wichtig, dass der Song, vor allem für mich persönlich, so gut wie möglich wird.
Was dann als Resonanz auf „Asymmetrical life“ kam, das habe ich davor noch nicht einmal ansatzweise erlebt. Leute haben mir extrem lange Emails und Nachrichten geschrieben, darüber, wie ihnen mein Lied helfen konnte, wie es sie berührt hat – das war schon prägend für mich. Natürlich muss man sich überlegen, ob man über Geschichten, die einen so verletzlich zeigen, schreiben will, aber ich glaube mittlerweile, dass man Menschen damit einfach viel tiefgehender erreichen und berühren kann, wenn man mehr von sich selbst preisgibt. Auch wenn das natürlich Mut braucht.
Mir persönlich haben die Veröffentlichung und das Feedback der Leute auf meinen Song dabei geholfen, besser mit der gesamten Situation umzugehen. Es ist schön zu merken, dass man den Menschen etwas zurückgeben kann, und nicht nur Musik für sich selbst oder für Kommentare wie „könnte im Radio funktionieren“, „cooler Song“ oder „dazu kann man tanzen“ macht. „Asymmetrical life“ wird deshalb immer ein extrem bedeutender Song für mich bleiben.
Mittlerweile bin ich übrigens froh über die Lebenserfahrung durch meine Erkrankung, auch wenn das alles am Anfang natürlich nicht sehr angenehm war. Aber meine Perspektive und meine Wertschätzung für das Leben haben sich dadurch tatsächlich positiv verändert. Ich habe seitdem außerdem begonnen zu meditieren, lebe vegan und mache viel mehr Sport – alle diese Dinge sind heute total wichtige Bestandteile meines Lebens. Jetzt gerade freue ich mich aber vor allem auf die kommenden Auftritte und die anstehende Albumproduktion.
Hier der Link zum Lied (als Musikvideo auf YouTube) Den Text zum Lied findet Ihr ebenso unter diesem Link, Joe Traxler hat ihn in einem Kommentar unter dem Video eingefügt.
Mehr zu Joe Traxler (Termine, Musik, Auftritte) findet Ihr auf https://www.joetraxler.com
Die Unglücke im Leben sind die wahren Aufgaben und Herausforderungen, die es zu bestehen gilt. Sie nähern uns dem an, was es heißt, Mensch zu sein. Comediante23
Schön, liebe Comediante,… Dankeschön! Liebe Grüße!
Du hast mich wieder so tief berührt. Und der Joe hat die Musik dazu gemacht.
Danke, liebe Carmen, dass du so offen über deine Verletzlichkeit sprichst. Du machst damit nicht nur anderen Mut, die durch eine ähnliche Phase der Selbstakzeptanz stecken. Nein, es ist viel mehr: Du erinnerst jede/n von uns, dass wir nur stark sein können, wenn wir uns trauen, Schwäche zu zeigen und nur schön, wenn wir uns vorbehaltlos lieben.
Liebe Frau Punkte – Danke für Deinen liebevollen Kommentar, der mich sehr berührt. Du bist in diesem Punkt (:-)) ein grosses Vorbild für mich. Schön, dass es Dich und Deinen Blog gibt ! Liebste Grüsse, Carmen.
Liebe Carmen, ich sage danke für diesen ganz besonderen Text.
Was das Schönsein betrifft, so haben Joe und du es längst geschafft.
Wie ich darauf komme? Ganz einfach: ich finde euch beide nicht nur schön,
sondern liebenswert und das funktioniert bekanntlich nur, wenn man das auch selbst (so) sieht.
Ich weiß nicht weshalb, aber sofort kam mir auch das Rilke-Gedicht „Engellieder“
in den Sinn. Nun, vielleicht ist Joe in gewisser Weise ja dein Engel und du seiner?
LG
Liebe Spiegelfassaden – ich danke Dir sehr für Deine lieben Worte und die schmeichelhaften Komplimente. Die tun der Seele gut 🙂 Das Rilke-Gedicht muss ich mir bald einmal durchlesen – kenne ich gar nicht – Rilke liebe ich aber sehr. Ganz liebe Grüße, Carmen
Liebe Carmen,
was für eine wunderbare Seite, lange Zeit habe ich jetzt auch mit deinen Liedern und Videos verbracht. Du bist echt eine tolle Musikerin! Vielen Dank für dein Vertrauen in die Welt und deine Offenheit, mir fällt der Spruch ein: nur was wir glauben, verstecken zu müssen, wird uns zum Verhängnis(so oder so ähnlich…).
Beste Grüße aus der großen Stadt, Jane.
Liebe Jane – danke Dir sehr für Deine schönen Zeilen und die Zeit, die Du mit meinen Gedanken in Lied- , Text- und Videoform geschenkt hast. Das weiß ich zu schätzen. Der Spruch gefällt mir sehr gut – woher kommt der denn? 🙂 Liebe Grüße, Carmen
Liebe Carmen,diesen Text von dir zu lesen, und dann auch das Lied und den Text von Joe Traxler hat mich sehr sehr berührt. So tiefe Gefühle ,soviele Ängste, das geht sehr tief in mein Herz. Dieses kleine, so hübsche Gesicht für mich, das für mich immer so einzigartig und von einer Schönheit erfüllt war, und die Angst, andere könnten das nicht so empfinden, hat auch mich sehr lange bewegt. Dann aber zu sehen, welche Stärke in dieser kleiner Person steckte, und vor allem wieviel Liebe und Herzenswärme , hat mich immer von Neuem beeindruckt. Symmetrie, Asymmetrie, was sagt das schon aus, welch Kleinigkeit eigentlich und doch manchmal so groß für dich. Auch wenn es soviel Zuwendung und Liebe von vielen Menschen gab, wenn es Rückmeldung gab, wie schön es ist, das Gesicht, du hast gebraucht, es so anzunehmen. Wie schön, wenn ich sehe, dass du auf diesem Wege bist, dich in deiner Verletzlichkeit zu zeigen, und ich wünsche dir und Joe, dass viele Menschen auf diese zarten Gefühle achtgeben. Ihr seid mutig und stark, euch in euren Schwächen zu zeigen, das macht vielen Mut, und mich erfüllt es mit Stolz!
Liebe Mami – dazu kann ich nur sagen – ohne Dich hätte ich das alles nie so gut hingekriegt – Du bist einfach die liebste und beste Mama, die man sich vorstellen kann. Danke für Deine lieben Worte und ganz viel Liebe aus Berlin – ich vermisse Dich!!!
Liebe Carmen,
da ich ja auch singe und Musik mache, spricht mit Dein Blog natürlich ganz besonders an und ich freue mich jetzt schon auf jeden weiteren Beitrag, den Du schreiben wirst. Ich finde Deine Idee wunderbar, Deine Geschichte zu den Liedern zu erzählen, die Dich geprägt haben, und sogar noch deren Interpreten zu Wort kommen zu lassen. Da blüht mein Musik-Herz auf!
Deinen dritten Blogbeitrag finde ich ganz schön besonders…besonders tiefgreifend, besonders ehrlich, besonders verletzlich, besonders stark, besonders Carmen! Danke dafür!
Liebe Grüße
Amelie
Liebe Amelie – vielen Dank für Deine schönen Worte und Gedanken zu meinem Blog! Wie schön, was Du darüber schreibst. Ich bin ja sehr gespannt auch herauszufinden, welche Art von Musik Du machst – vielleicht darf ich Dich ja eines Tages auch live erleben. Ganz liebe Grüße, Carmen 🙂
Wow, vielen Dank für deinen Blogbeitrag. Ich habe zuerst gelesen und dann das Lied gehört und sitze jetzt mit Gänsehaut an meinem Schreibtisch. Habe noch darüber nachgedacht, was du mit der Zeile meintest „Dies könnte mein finaler Abschied von einem symmetrischen Lächeln sein“ und dann sah ich im mutigen Video von Joe Traxler, was du meinst. Es beeindruckt mich, welchen Weg du beschreibst, wie du zu dir selbst gelangst und dich mehr und mehr annimst. Und noch etwas: Wenn ich an den Präsenzwochenende meist noch etwas müde 10 Uhr in den Freitag starte, habe ich spätestens wenn du mich wie bisher immer so fröhlich und energiegeladen anstrahlst und mich begrüßt, dass erste Lächeln des Tages im Gesicht! Danke dafür und deinen Text! Anne
Liebste Anne – wow – Dein Kommentar berührt mich! Vielen lieben Dank dafür! Auch ich freue mich immer sehr darauf, Euch alle zu sehen – da kommt das Strahlen ganz von selbst!!! Ganz liebe Grüße und ich freue mich auch darauf, Deinen Blog zu lesen – Carmen. 🙂
Liebe Carmen,
Nun komme ich auch dazu mir deinen Blog anzusehen. Ich will dir sagen, dass du für mich hier etwas ganz Besonderes schaffst: durch dein Schreiben machst du mir dich spürbar und du machst mir den Künstler oder die Künstlerin spürbar, machst Dialog und Begegnung und schaffst es sichtbar zu machen, was Kunst bewirken kann! Dadurch gibst du mir Mut für meine Arbeit. LG Elisabeth
Liebe Elisabeth – Danke Dir ganz herzlich für Deine lieben Worte!! Das Kompliment kann ich aber definitiv an Dich zurückgeben! Auch Du präsentierst KünstlerInnen in einem ganz wunderbaren Licht! Liebe Grüße, Carmen 🙂
Wow Carmen. Dieser Text hat mich sehr berührt. Vielen vielen Dank für deine Offenheit und dein Vertrauen, das du deinen Leser/innen damit entgegenbringst! Damit beweist du so viel Mut und Stärke und ich bin überzeugt davon, dass die einzige Möglichkeit, wahre Zwischenmenschlichkeit, echte aufrichtige Verbindungen und tiefe Freundschaft und Liebe auf der Welt zu schaffen, darin besteht, sich verletzlich zu zeigen, genau so wie man ist, ohne Zensur, ohne Verschönerung, ohne Verschweigen. Nur im Original zu haben. Und wenn es dir nicht passt oder du ein Problem damit hast, dann bleibt das bei dir, aber ich für mich selbst weiß, dass ich zu mir stehe, mit allem was dazugehört, und meinen eigenen authentischen Weg gehe, Jawoll, Carmen! Genau so. Ich bin überzeugt davon, dass du mit deinen Texten sehr viel Mut und Hoffnung schenkst, und das denke ich sogar ziemlich unabhängig davon, ob man als Leser/in selbst von speziell diesem einen Thema betroffen ist. Denn es gelingt dir sehr gut, das Ganze in einen größeren Zusammenhang einzuordnen finde ich. So dass sich damit viele Menschen identifizieren können.
Und, auch wenn dir das sicher ganz ganz viele Menschen schon gesagt haben: Abgesehen von deiner äußeren Schönheit besitzt du ein ganz besonderes Strahlen. Ein Strahlen von Innen. Und hat sich schon mal jemals jemand mit der Symmetrie von einem Strahlen beschäftigt??
Liebe Polarphileme – ich lag‘ gestern schon im Bett, als Dein Kommentar in meinen Benachichtigungen aufgetaucht ist – und bin wirklich mit einem Grinsen auf den Lippen eingeschlafen – so schön. Ich danke Dir von Herzen für Deine lieben Worte! Könnte ich rot werden – es würde jetzt passieren 🙂 Und… Du schreibst bezaubernd,… !